Rede von Bundeskanzler Karl Nehammer – Festveranstaltung "Bundeskanzleramt: 100 Jahre Amtssitz des Bundeskanzlers"

Sehr geehrte Ehrengäste hier im Saal, liebe Österreicherinnen und Österreicher, die im Livestream beziehungsweise vor den Fernsehgeräten jetzt diese Veranstaltung mitverfolgen.

Der Generaldirektor des Staatsarchivs hat schon erwähnt, es wird für Überraschungen gesorgt haben, wieso wir 100 Jahre Kanzleramt eingeladen haben und was denn das zu bedeuten hätte. Und zunächst einmal möchte ich sagen, ein Besuch im Staatsarchiv lohnt sich. Dr. Wohnout und sein Team sind die Hüter der wesentlichsten Urkunden, die die Geschichte Österreichs in seinen Jahrhunderten dokumentiert und darstellt, fürsorglich behandelt und immer wieder ein lohnender Blick hinein in die Geschichte zeigt, welche großen Veränderungen vorgenommen worden sind.

Und die 100 Jahre waren für uns Anlass in der Überlegung zu reflektieren, nachzudenken, was das eben auch bedeutet. Denn der geschichtliche Abriss hat gerade gezeigt, es waren heftige Zeiten, die dieses Haus erlebt hat. Heftige Zeiten in der Ersten Republik und in der Folge dann im Aufbau der Zweiten Republik. Und ich glaube, es ist notwendig, dass wir uns als Demokraten und Demokratinnen in diesem Land immer wieder mit der Geschichte auseinandersetzen und uns immer wieder dessen bewusst sind, dass das, was wir haben, zwar für uns schon selbstverständlich geworden ist, aber für viele auf der Welt als außergewöhnlich gilt. Demokratische Staaten sind in der Vielzahl der Staatengemeinschaft in der Minderheit. Und der Bundespräsident hat ja im Zuge der Renovierung jetzt der Präsidentschaftskanzlei, der Fassade außen einen Spruch anbringen lassen, der aus meiner Sicht sehr weise ist und klug gewählt, nämlich, dass Demokratie jeden Tag erneuert werden muss. Und das ist tatsächlich ein guter Ratschlag auf der einen Seite und auf der anderen Seite, glaube ich, gar nicht so selbstverständlich. Denn wir sind sie, wie gesagt, eben auch schon sehr gewohnt und wir haben uns auch schon wieder sehr verändert seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Gründung der Republik als Leopold Figl. Und ich freue mich sehr, dass ein Familienmitglied anwesend ist, der heute auch als erster Bundeskanzler hier tatsächlich dann wirken konnte, mit den folgenden Regierungen.

Wir haben einen wesentlichen neuen Schritt der Veränderung gesetzt und sind der Europäischen Union beigetreten und das bedeutet auch für die Demokratie viel, weil wir bereit sind, auch eigene Souveränität ein Stück weit abzugeben. Das ist auch keine Selbstverständlichkeit, auch das muss jeden Tag neu erklärt und erneuert werden und führt dazu, dass wir in keiner Form der Selbstverständlichkeit unsere Umgebung, das, was Österreich ausmacht, einfach nur so zur Kenntnis nehmen dürfen. Und so ist die Idee entstanden, anlässlich 100 Jahre Bundeskanzler und Bundeskanzlerin hier in diesem Haus, das einfach sich wieder auch ein Stück weit zu vergegenwärtigen.

Denn wir selbst erleben es weltweit, aber auch in unserem eigenen Land, Demokratie ist auch bei uns keine Selbstverständlichkeit. Was heißt dieses Jeden-Tag-Erneuern, Jeden-Tag- sich-dafür-Einsetzen? Wir leben in einer total veränderten Gesellschaft und sich ständig laufend verändernden Gesellschaft, aber nicht nur durch interne gesellschaftliche Prozesse und Emanzipationsfortschritte, sondern wir erleben sie auch, die Gesellschaft erlebt einen Druck, der seltsam von außen auf sie einwirkt, wenn ich an die Revolution der Digitalisierung denke und daraus resultierend die Revolution der sozialen Medien und daraus wiederfolgend, welchen Druck soziale Medien auf das bisher gewohnte Medienverhalten an sich auslösen können und auch welche Veränderung sie damit erreichen. Da passiert viel. Wir erleben es in der zeitgeschichtlichen Darstellung. Wir erleben Desinformationskampagnen, Angstmache, Fake News, die verbreitet werden und wir erleben eine Transformation.

Denn als der Zweite Weltkrieg geendet hat, war eines der wesentlichsten Merkmale dieser veränderten Gesellschaft eben auch die freie Meinungsäußerung, die wieder zurückgekommen ist, die Freiheit, Medien zu gründen, Politik, Gesellschaft zu beschreiben, zu kritisieren, einzuordnen. Das war eine Revolution und bedeutet aber auf der anderen Seite auch ein Monopol der Medien an sich in der Deutungshoheit gesellschaftlicher Veränderungen, die sich eben im Zuge einer Geschichte ereignen. Die Deutungshoheit gibt es heute nicht mehr. Heute liegt sie oft bei einzelnen Userinnen und Usern, die entsprechend ihrer Verbreitung dann in den sozialen Medien oft schon mehr Macht haben über Bildsprache oder Information, als es noch möglich ist, sie dann überhaupt in der Geschwindigkeit, wo sie online präsent sind, wieder einzuordnen.

Auch das heißt, sich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen, das heißt, sie auch in der Bildung mit einfließen zu lassen und nicht nur in der Bildung der Kinder, die heranwachsen, sondern in Wahrheit auch in der Frage der Erwachsenenbildung, wie man mit diesen Phänomenen, die die Gesellschaft neu beeinflussen, tatsächlich umgeht.

Demokratie muss jeden Tag erneuert werden. Das heißt auch, dass wir als politisch Verantwortliche uns daran erinnern müssen. Das heißt für uns die Mahnung, dass wir unsere Wortwahl immer wieder reflektieren und darüber nachdenken, was Worte auslösen können. Im Altgriechischen gibt es ein Sprichwort, das besagt, die Zunge ist schärfer als ein Schwert. Verletzungen und Verwundungen, einmal ausgesprochen, können oft nie wieder rückgängig gemacht werden. Sie können verführen, sie können radikalisieren, sie können Veränderungen herbeiführen.

Das ist unsere Aufgabe als politisch Verantwortliche, gemeinsam diese Verantwortung zu tragen, wie übrigens Verantwortung an sich wunderbar zu spüren ist, wenn man Bundeskanzler sein darf. Es ist tatsächlich etwas Besonderes, Verantwortung leben zu dürfen. Aber es ist eben gemeinsame Verantwortung. Sie ist nicht alleine zuordenbar, sie ist nicht nur an einer Person festmachend, es ist gesellschaftlicher Auftrag, denn es ist viel leichter natürlich zu kritisieren, sich nicht einzubringen als eben bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen, wie das hunderttausendfach in Österreich passiert, durch das unglaublich beeindruckende ehrenamtliche Engagement in den Vereinen, in den vielen Organisationen, die einen wichtigen Lückenschluss zu dem darstellen, was der Staat an sich in der Lage ist zu leisten und leisten kann. Verantwortung, wichtig im Umgang miteinander und im Respekt zueinander. Ich glaube, das sollten wir uns alle immer wieder vor Augen führen, wenn wir erleben, wie gerade auch in sozialen Medien Desinformation, Schmähungen, Heruntermachen von Menschen stattfindet. Wir waren stolz darauf, den Pranger in der Strafjustizreform wegzubringen aus der Gesellschaft, das Belustigen an Hinrichtungen, Folter, das öffentlich durchgeführt wurde, wurde gebannt. Aber was wir heute indirekt erleben: Es kommt ein Stück weit zurück. Es trifft die Gesellschaft, es trifft die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger, wenn Hater sozusagen ihre Hassbotschaften im Internet verbreiten. Es trifft nicht nur die Menschen in der Politik, es trifft die Menschen untereinander. Man sieht oft, mit welcher Ungehemmtheit aufeinander losgegangen wird und wie Menschen plötzlich in die Öffentlichkeit gezerrt werden, deren Leben, deren Familien und damit große Belastungen mit einhergehen, die manche vielleicht dann gar nicht mehr in der Lage sind zu tragen. All das muss uns mahnen, hier genau hinzuschauen, wenn es darum geht, Demokratie zu erneuern. Denn Demokratie funktioniert nur, wenn Menschen sich daran beteiligen, wenn sie sie eben nicht als selbstverständlich erachten.

Das Besondere an dem, was – finde ich – in diesem 100 Jahre Kanzleramt heute auch so zeigen ist, es heißt, wir haben dafür zu sorgen, dass die Demokratie wehrhaft ist. Ein schon fast in Vergessenheit geratener Begriff, aber er drückt so viel Leidenschaft aus.

Leidenschaft für das einzustehen, ja, im Notfall auch dafür zu kämpfen, was uns gemeinsam wichtig ist in dieser Republik Österreich, wofür wir gemeinsam einstehen und wofür es sich lohnt, tatsächlich, wenn es notwendig ist, dann eben auch zu kämpfen.

Und wir sehen es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, dass es überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist, wenn wieder ein Angriffskrieg geführt werden, wenn mit Krieg versucht wird, Politik zu machen und Hunderttausende darunter leiden, wie gerade jetzt auch in diesen Stunden in der Ukraine. Oder wenn wir darüber nachdenken, dass es immer Gruppen gibt in der Gesellschaft, die meinen, es besser zu wissen, woher auch immer sie ihre Legitimation beziehen, meistens Missbrauch brauchen sie auch dann noch Religionen, um irgendein seltsames moralisches Rechtfertigungskonstrukt zu kreieren und verbreiten dann mit Terror, Angst und Schrecken auf der Welt, so wie wir es jetzt erlebt haben in Israel, mit dem mehr als verheerenden Terroranschlag der Hamas gegen Jüdinnen und Juden auf der einen Seite und auf der anderen Seite in der Geiselnahme der Palästinenserinnen und Palästinenser, die als Schutzschilde dienen, um damit auch wieder Bilder zu erzeugen, Stimmung zu erzeugen, soziale Medien zu dominieren, Leid und Schrecken zu verbreiten, dafür lohnt es sich zu kämpfen dagegen, dass so etwas eben nicht stattfindet, dass diese Gruppen eben nicht durchkommen mit ihrer Botschaft und uns weismachen wollen, dass das, was sie tun, irgendeine Form von Legitimation hat, das hat es nicht, es ist ein Verbrechen. Verbrechen sind zu benennen, wer weiß das besser als wir, wir die Verantwortung tragen für unsere Geschichte, die erlebt haben, was hier passieren kann und dieses Haus zeigt so viel Geschichte.

Und jeder Bundeskanzler, jede Bundeskanzlerin, es freut mich besonders, dass so viele hier anwesend sind, hat seine besondere Geschichte mit dem Haus und vor allem mit seinem politischen Wirken. Franz Vranitzky, seine Zeit der Regierung mit Alois Mock an der Seite der Beitritt zur Europäischen Union, aber auch das klare Bekenntnis der Mitschuld am Verbrechen des Nationalsozialismus und es ist so wichtig, dass gesellschaftliche Übereinstimmung auch fortgesetzt wird. Wolfgang Schüssel hat diese Tradition als Bundeskanzler mehr als sichtbar gemacht, dass wir Verantwortung zu übernehmen haben für das, was passiert ist und gleichzeitig die Transformation in die neue Gesellschaft hinein zu zeigen, was bedeutet das Verantwortung zu übernehmen und aus der Geschichte zu lernen und dafür auch wieder eine Gesellschaft neu zu bilden. Brigitte Bierlein, wahrhaft eingestanden in einer Zeit einer großen Herausforderung, repräsentierend die Eleganz der Verfassung im wahrsten Sinne des Wortes durch den Bundespräsidenten ausgedrückt in einer schwierigen Zeit und weil er mich gerade so anlächelt, das können Sie jetzt leider nicht sehen hinter den Fernsehgeräten oder vor den Bildschirmen. Alexander Schallenberg, der ebenso bewiesen hat in seiner Zeit, dass es notwendig ist, Verantwortung zu übernehmen, bereit zu sein und eben diesem Land zu dienen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Wort, das manchmal auch in Vergessenheit gerät oder nicht mehr allzu gerne genannt wird und in Wahrheit so schade, dass man es nicht tut. Als Bundeskanzler der Republik Österreich ist es eine Ehre, den Menschen in diesem Land zu dienen. Als Mitglieder der Bundesregierung, als Abgeordnete, als politisch Verantwortliche, wenn man bereit ist, eben Verantwortung zu übernehmen und dienen, ist nicht etwas Schlechtes, sondern etwas Gutes. Man setzt sich für jemanden und für eine große Gemeinschaft ein. Es ist außergewöhnlich immer wieder, wenn man in dieses Haus tritt. Es ist außergewöhnlich, wenn man in die Geschichte blickt. Es ist für mich jedes Mal beeindruckend, sich mit den Persönlichkeiten der Gründung der Zweiten Republik auseinanderzusetzen, wie Leopold Figl, der mit so viel Leidenschaft gemeinsam mit den Streitparteien der Ersten Republik, Sozialdemokraten und Christlichsoziale in der neu gegründeten Volkspartei, gemeinsam diese Republik wiederaufgebaut hat, mit einer Zuversicht und einem Glauben an dieses Land. Und ja, wir haben jetzt auch wieder schwere Zeiten erlebt, nicht vergleichbar mit denen und dem Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, aber für die Menschen in unserer Gesellschaft gab es jetzt eine anstrengende Zeit, auch die sie hinter sich gebracht haben. Das Virus, der Krieg in der Ukraine, die Teuerung, die Inflation, der Terror, der wieder sichtbar wird, viel Angst, die herumgeht. Aber das Wichtige ist, Angst kann man nur begegnen mit Zuversicht, mit dem Selbstvertrauen, mit der eigenen Wehrhaftigkeit, mit der Widerstandsfähigkeit und dem Glauben an seine eigenen Stärken und dem Glauben auch an dieses Österreich, das so viel erlebt hat, so viele schwere Zeiten wie schöne Zeiten und gute Zeiten und herausfordernde Zeiten. Diese Zuversicht, die teile ich mit meinen Vorgängern und ich freue mich hier mit Ihnen gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir stetig und jeden Tag unsere Demokratie erneuern können.